Translater:
Behauptung, These:
"Die EZB hat den Leitzins drastisch erhöht."
Über diesen Satz stolperte ich im SPIEGEL vom 8. 10. 2022. Drastisch erhöht? Der Leitzins liegt gerade mal bei 1,25 % - bei einer Inflation von 10 %. Die Inflation ist also achtmal höher als der Leitzins der EZB! Was bitte ist daran so dramatisch, so drastisch? Leben wir inzwischen in einer irrealen Welt, haben sich wichtige Regeln verschoben? Der Leitzins wurde das letzte Mal um lächerliche 0,75 % angehoben, nicht aber um 2, 3, 4 oder 5 %. Wie will man bei derartigen Trippelschritten den Leitzins jemals mit der aktuellen Lage in Einklang bringen? Denn nur bei einem fairen Leitzins funktioniert Marktwirtschaft, werden Privatvermögen (Spargelder, Lebensversicherungen, Aktien, Immobilien usw.) nicht durch eine Art Enteignungssteuer entwertet. Leitzins-Erhöhungsschritte von 1,5 oder 2 Prozent würden zwar konjunkturdämpfende Auswirkungen haben - aber noch plagt man sich doch angeblich mit dem Phänomen eines wirtschaftshemmenden Fachkräftemangels. Und überhaupt: Eine Wirtschaft kann nur prosperieren, wenn moralische Grundwerte eingehalten werden. Null Prozent Sparzins bei einer zehnprozentigen Inflationsrate sind aber mehr als unmoralisch. Da ist das Chaos vorprogrammiert, unter solchen Bedingungen muss der Kapitalismus kapitulieren.
"Wachstum,
Wachstum, Wachstum
"
So
lautet das Mantra der neuen britischen Premierministerin Liz Truss
(zu lesen ebenfalls im SPIEGEL vom 8. 10. 2022). Sie steht damit
nicht allein - der ständige Ruf nach Wachstum scheint die
übliche Denke der westlichen Politik- und Wirtschaftseliten zu
sein. Dabei wird selten hinterfragt, was das ominöse Wachstum
eigentlich den Menschen bringt. Denn trotz aller aufgemotzten
Wachstumsbilanzen sind die realen Nettolöhne und Renten in fast
allen Industrienationen seit 1980 gesunken. Das
BIP soll sich seither in Deutschland aber gar vervierfacht
haben.
Stehen die Wachstumserfolge nur noch auf dem Papier, haben sie wegen
ständig wechselnder Berechnungstricks heute keinen Bezug mehr
zur Realität?
Mit
jedem Schwachsinn lässt sich Wachstum erkaufen
Das
Wachstum unterscheidet nicht zwischen gut und böse,
nützlich oder unsinnig. Die Inszenierung oder Ausweitung von
Kriegen zum Beispiel kann ungeheures Wachstum generieren, oder
die Eskalation der europäischen Bürokratie, die
Vorschriftenflut, ein Übermaß an Werbung, der Bau von
Pyramiden, eine gegenseitige Dienstleistungsbeschäftigung
(Kommerzialisierung der Hausarbeit und Kinderbetreuung), eine stete
Ausweitung der Umschulungs- und Ausbildungsmaßnahmen, die
Exzesse einer (kontraproduktiven) internationalen Arbeitsteilung usw.
All das schafft scheinheiliges, oft sogar umweltschädigendes,
Wachstum. Aber in Gesellschaften, in denen der Blick zurück
als rückwärtsgewandt gilt und es verpönt ist,
unangenehme Erfolgskontrollen zuzulassen, fällt so etwas gar
nicht mehr auf. Da wird das Wachstum immer noch wie eine
Monstranz vor sich hergetragen. Echtes Wachstum gibt es jedoch nur
bei einer sichtbaren Verbesserung der Lebensumstände. Und
aus dieser Perspektive heraus verharren wir seit 1980 in einem
Abwärtstrend.
Italien,
Großbritannien, Deutschland usw. - ohne die Abkehr vom globalen
Dumpingsystem wird der seit vier Jahrzehnten anhaltende Niedergang
sich verschärft fortsetzen
Wenn unsere
westlichen Regierungen weiterhin am Globalisierungsfetisch festhalten
und meinen, sie können diese Irrlehre über eine
marktfeindliche, manipulierte Billiggeldschwemme über die Zeit
retten, werden die meisten alten Industrienationen im Sumpf der
verschleierten Unmoral versinken. Dagegen hilft nur, sich langsam
aber sicher von der absurden Im- und Exportabhängigkeit zu
lösen (über einen schrittweise Anhebung der Zölle) und
mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit zu wagen. Auf der soliden
Basis eine sich allmählich aufbauenden Eigenversorgung braucht
es dann auch keine marktfeindliche Billiggeldschwemme mehr. In
einem seriösen, intakten Binnenmarkt (ohne Dumpingeinfluss von
außen) reguliert sich alles wie von selbst.
Die
EZB strebt eine Inflationsrate von 2 % an
und tut gerade so,
als ob höhere Inflationsraten völlig inakzeptabel
wären. Aber wie war es denn in der BRD in den 1970er Jahren. Da
gab es über viele Jahre hinweg Inflationsraten von über
sechs oder sieben Prozent. Und dennoch sind die Reallöhne
kräftig gestiegen. Und selbst Sparer haben reale Renditen
erzielt, sowohl Sparbücher und Staatsanleihen waren eine
verlässliche Geldanlage (niemand musste krampfhaft in
spekulative Aktien investieren). Erst mit Einführung des Euro
hat sich alles grundlegend geändert (sogar
die Inflationsberechnung).
Ich halte es für engstirnig, sich krampfhaft auf eine
zweiprozentige Inflationsrate zu fixieren, obwohl alles drunter und
drüber geht. Die Inflationsrate spielt im gemäßigten
Bereich keine große Rolle, solange es gerecht zugeht (also die
Lohnsteigerungen und Sparzinsen die Teuerung zumindest
ausgleichen).
PS: Als 1972 die Ölpreise durch die OPEC stark angehoben wurden und daraufhin in Deutschland die Inflationsrate auf über 7 % anstieg, haben unsere damaligen (nationalen) Währungshüter innerhalb von 18 Monaten den Leizins von vier auf dreizehn Prozent angehoben. Das ging! Die Bevölkerung verlangte keine Sonderhilfen, obwohl die Realeinkommen damals deutlich niedriger waren als heute. Die Löhne zogen sogar noch über die Teuerungsrate hinausgehend an, ebenso wie die Sparbuchzinsen. Aber heute sind diese natürlichen Abläufe wegen der Transferunion verbaut. Ende der 1990er Jahre hatte man über die Einführung des Euro den europäischen Einheitsstaat erzwingen wollen. Wohl wissend, dass eine Einheitswährung nur in einer politischen Union funktionieren kann. Aber die Vereinigung Europas ist gescheitert. Und nun weigert man sich beharrlich, die Konsequenzen zu ziehen und den Krisenherd Euro wieder abzuschaffen.
Gibt es nur noch populistische Anbiederungs-Demokratien? Solange Geld verteilt wird und der weltoffene, grenzenlose Sozialstaat finanzierbar zu sein scheint, ist alles gut. Woher das Geld kommt, ist den meisten Wählern offenbar Schnuppe. Denn sie denken vorwiegend emotional, nicht aber rational. Somit sind das Image der Parteien und die Sympathiewerte der Spitzenpolitiker wahlentscheidend.
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Manfred Julius Müller, Flensburg, 13. 1. 2022
Anmerkung:
Der Sinn einzelner Thesen erschließt sich oft erst im
Zusammenhang mit anderen Artikeln des Autors. In einem einzelnen
Aufsatz können nicht jedesmal alle Hintergründe und
Grundsatzüberlegungen erneut eingeflochten werden.
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von Manfred J. Müller
"Ich
lese nur das, was meine eigene Meinung bestätigt! Ich
will mich ja schließlich nicht
ärgern!"
Mit
dieser weit verbreiteten Haltung ist der Demokratie aber wenig
gedient. Merkwürdig, dass man derlei Sprüche gerade von
Leuten hört die vorgeben, die Demokratie retten zu wollen und
sich selbst für tolerant halten.